Als „Ethik-Papst“ der Wirtschaft machte sich Prof. Dr. Rupert Lay in den 90er Jahren einen Namen. Der Managementtrainer, Philosoph und Psychotherapeut veröffentlichte insgesamt mehr als 100 Publikationen, darunter Bestseller wie „Weisheit für Unweise“ und „Die Macht der Moral“.
Oberste Maxime der von ihm entwickelten Ethik der Biophilie (wörtlich „Liebe zum Leben“) ist es, das „personale (soziale, emotionale, musische, sittliche, religiöse) Leben“ in seiner individuellen Gesamtheit zu entfalten. Rupert Lay ist bis heute Ehrenvorsitzender im Kuratorium der „Fairness-Stiftung“ sowie Ehrenpräsident des Ethikverbands der Deutschen Wirtschaft. Als Special Guest der Fachmesse Zukunft Personal beteiligt sich der 84-jährige am Mittwoch, 18. September, an einem Podiumsgespräch zum Thema Wertewandel in Unternehmen. Im Vorfeld sprachen wir mit ihm über die Notwendigkeit, ethisches Denken und Handeln zu schulen und die aktive Rolle, die dem Personalmanagement dabei zufällt. Herr Prof. Lay, Sie setzen sich seit langer Zeit für ethisches Denken und Handeln in der Wirtschaft ein. Bezogen auf Ihr Lebenswerk: Sehen Sie die Zukunft vorrangig mit Zuversicht oder mit Sorge? Ich vermute mit Teilhard de Chardin, dass die Evolution des Menschen auf das Werden einer Menschheit hinausläuft. Die entscheidende Frage ist: Wird diese eine Menschheit wie ein Termitenstaat oder wie ein Verbund freier Menschen organisiert sein? Das Ziel meiner Versuche, eine Ethik des Sozialen zu entwickeln, ist die Realisierung der zweiten Möglichkeit.
Was ist charakteristisch für den Termitenstaat?
Alle haben die gleiche Meinung und alle arbeiten ohne jedes Überlegen aufgrund einer höheren Gesetzmäßigkeit, die nicht von Menschen vorgegeben ist. Vogelschwärme, Fischschwärme oder Insektenstaaten gehorchen einer Regel, die auf wechselseitiger Information, aber nicht auf subjektiven Entscheidungen des einzelnen Individuums beruht.
Wohin tendiert nun die Entwicklung aus Ihrer Sicht?
Im Augenblick gibt es divergierende Tendenzen. Die Politik und die Ökonomie betreiben eine Pluralität, die einer Ethik des Humanen nicht gerecht wird. Die Philosophie etwa des Konstruktivismus führt hingegen zu einer Pluralität, die Toleranz und Freiheit gibt. Freiheit und Toleranz gründen in der Tatsache, dass jeder Mensch seine eigenen Wirklichkeiten hat, die vor dem Anspruch der Realität allerdings zu überprüfen sind. Realität sei hier verstanden als die Welt der Sachverhalte, wie sie unabhängig von menschlichem Erkennen besteht. Wirklichkeit bezeichnet die Menge aller Sachverhalte, wie sie der Mensch konstruierend erkennt, versteht, in ihnen lebt und wirkt. Seine Wirklichkeiten bestimmen sein Denken, sein Wollen und sein Handeln. Die Politik und viele Bereiche der Wirtschaft, die sich als globalisierend verstehen, versuchen jedoch, unabhängig von jeder Verantwortung vor der Realität, politische und ökonomische Großgebilde zu schaffen, das heißt kollektive Wirklichkeiten zu schaffen.
Aber Freiheit und Toleranz könnten dennoch am Ende der Entwicklung stehen – im ganz großen Stil?
Das ist die Chance, die uns die Zukunft bietet, um der Globalisierung des Denkens, des Wollens und Handelns zu entgehen, also nicht den Termitenstaat zu entwickeln, sondern jedem Menschen das Recht zu lassen, seine eigenen Wirklichkeiten zu leben, wenn sie nicht sozial unverträglich sind. Und darum geht es: Was „sozial unverträglich“ ist, kann nicht von Systemen diktiert werden, es muss von einer Ethik und deren Normen her bestimmt sein. Die Besucher der Zukunft Personal interessiert vor allem, inwieweit ethisches Denken und Handeln in der modernen Wirtschaft möglich ist. In einem Interview auf a-m-t.de beklagen Sie die Dominanz der Moral gegenüber der Ethik. Wie unterscheiden sich diese Begriffe? Ich benutze das Wort Moral für das, was soziale Systeme – Staaten, Unternehmen, Parteien, Kirchen bis hin zu privaten Partnerschaften – hervorbringen, um sich selber zu erhalten und zu entfalten. Systeme beziehen ihre Identität aus drei Dingen, die sie sich selbst schaffen: aus Moral, aus Geschichte und aus ihrer Kultur. Ethik hingegen ist keine kollektive, sondern eine individuelle Sache. Wenn alle Menschen an diesem einen Strang der Ethik ziehen, ist das für mich die Biophilie zum personalen Leben. Wenn dies gelingt, werden wir dem Termitenstaat entgehen – aber auch nur dann.
Woran können sich die Menschen halten, wenn sie ethisch handeln wollen?
Ethik orientiert sich nur an sozialen Systemen und ihren Normen, insoweit sie für ein menschliches, von Ethik geleitetes, Leben notwendig sind, um sich ökonomisch, politisch oder kulturell zu realisieren. Menschen sind wesentlich soziale Wesen und somit auf soziale Systeme existenziell angewiesen. Ihr Handeln aber muss ethischen Normen genügen und moralischen nur insoweit als sie ethischen nicht widersprechen. Das setzt allerdings voraus, dass ein Mensch über eine Ethik verfügt, die ihm realitätsdichtes Handeln nicht nur ermöglicht, sondern es sogar einfordert.
In der Wirtschaft besteht das Postulat des schnellen Handelns. Wie verträgt sich das mit der Ethik?
Zwischen Moral und Ethik gibt es noch eine vermittelnde Instanz, die Sittlichkeit. Ein Mensch handelt sittlich, wenn er den moralischen systemischen Normen folgt, solange sie nicht der Ethik widersprechen. Die Aufgaben, die ein Mensch in seiner jeweiligen Position und in seiner jeweiligen sozialen Stellung verantwortet und wahrnehmen muss, sind ja sehr verschieden. In Hinblick auf schnelle Entscheidungen hilft auch der schöne alte Begriff der Tugend weiter. Denn tugendhaftes Handeln benötigt kein langes Nachsinnen, sondern ist eine Grundeinstellung. Thomas von Aquin nennt Tugend „ habitus operativus bonus“, also eine auf das Handeln hin orientierte ethisch verantwortete Grundeinstellung. Ein Manager, der in seiner menschlichen Orientierung auf das ethisch Gute ausgerichtet ist, wird auch in überraschenden Situationen, die schnelles Handeln erfordern, richtig handeln.
Das klingt jetzt leicht. Aber ist dazu wirklich jeder Mensch befähigt?
Wir Menschen können und sollten es lernen. Genauso wie man sein Gewissen schulen muss, damit es in kritischen Situationen nicht versagt, muss man ethisches Handeln trainieren, das letztlich auch Gewissensnormen unterstellt ist. Das sittliche Gewissen ist eine psychische Instanz, die, dem Handeln unmittelbar vorausgehend, über die sittliche Qualität einer Handlung urteilt. Sie hat mit dem „schlechten Gewissen“, das der Handlung folgt, nichts gemein. Dieses Gewissen ist ein Punkt der Erziehung und reagiert meist auf das Übertreten moralischer Normen.
Wie lässt sich ethisches Handeln in Unternehmen üben?
Es fängt mit Kleinigkeiten an. Zum Beispiel schon bei der Überlegung, wenn ich jetzt mit diesem Kunden oder jenem Mitarbeiter spreche, wie gestalte ich das sozial verträglich? Das Management hat immer drei Dimensionen zu berücksichtigen: erstens den Kunden, zweitens das Kapital und drittens den Faktor Arbeit. Das sind seine drei Berührungspunkte mit der Umwelt. Ich denke, die Hinorientierung zum sozial verträglichen Handeln im Sinne der Biophilie, also der höchstmöglichen menschlichen Entfaltung, muss für alle drei Funktionen gelten.
Das wirkt noch etwas abstrakt. Können Sie das konkretisieren?
Man kann ethisches Handeln auch privat einüben. Indem man sich fragt, fördert das, was ich gerade gesagt, getan oder gedacht habe, das Leben der mir anvertrauten Menschen oder ist es lebensmindernd? Das tue ich eigentlich, wenn ich mit jemandem sprechen will. Vor allen Dingen, wenn ich nicht nur Small Talk mache, bin ich daran interessiert, eher Leben zu mehren als zu mindern. Besonders in emotionalen Grenzsituationen des Tadels oder des Ärgers, die Gott sei Dank nicht ständig vorkommen, muss dieses Handeln eingeübt werden – damit man es kann, wenn es darauf ankommt. Es gibt ja diese abschreckenden Beispiele für systemischen Gehorsam: die Milgram-Experimente, die zu klären versuchten, warum sich im Dritten Reich so viele Menschen auf den Befehlsnotstand berufen haben. Die dutzendfach wiederholten Experimente haben bewiesen, dass alle Menschen dazu tendieren, Befehlen zu folgen – bis hin zur Tötung eines anderen Menschen. Davon müssen wir fortkommen! Ethik, die das nicht leistet, hat den Namen Ethik nicht verdient.
Am Arbeitsplatz geht es aber zum Glück meistens um weniger gravierende Entscheidungen.
Ja, aber immerhin. Der systemische Gehorsam, also Gehorsam gegenüber den Normen eines Systems, kann Menschen, nachgewiesenermaßen fast alle Menschen, dazu bringen etwas zu tun, was radikal unmenschlich ist.
Welche Rolle spielt das Personalmanagement bei der Ausbildung der Unternehmenskultur?
Das Personalmanagement ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Ich bin der Meinung, es sollte dazu ein Trainee-System einführen. Unter der Leitung eines ethisch verantwortlich handelnden Vorsitzenden, am besten eines Vorstands, sollten junge Leute, die von der Hochschule oder aus anderen Unternehmen kommen, erst mal zwei Jahre lang in die Unternehmenskultur eingeführt werden.
Sollten Unternehmen bei der Einstellung von Mitarbeitern grundsätzlich darauf achten, dass die Bewerber über eine ethische Gesinnung verfügen?
Nicht unbedingt. Es sollte jedoch unverzichtbar sein, das Potenzial eines Mitarbeiters zu erkennen und auszumachen, ob und in welchem Umfang er imstande ist, zwischen Ethik, Moral und Sittlichkeit zu unterscheiden. Der neue Mitarbeiter sollte fähig werden, Anordnungen, Weisungen oder Befehle auf ihre sittliche Qualität hin zu überprüfen. Gegebenenfalls sollte er sich der Ausführung verweigern dürfen. Das allein unterscheidet letztlich eine Führungskraft von einer Führungspersönlichkeit.
Ist ethisches Handeln generell schwieriger geworden angesichts der Globalisierung? Sind die Menschen heute unfreier in ihren Entscheidungen?
Ja natürlich. Die Kollektivierung des Denkens und Urteilens, die oft mit der Globalisierung in Ökonomie und Politik verbunden ist, ja, verbunden sein muss, begrenzt die Möglichkeiten der Gedankenfreiheit. Diese ist jedoch die Voraussetzung von Wollensfreiheit und Handlungsfreiheit. Beide sind ohne Gedankenfreiheit nicht zu haben. Die Ökonomie droht der Politik zu entgleiten. Das Kapital versucht, die Politik auszubeuten, also an Steuergelder zu kommen. Karl Marx hält das für die letzte Phase des Kapitalismus: Wenn es nichts anderes mehr auszubeuten gibt als den Staat, kommt der Sozialismus. Wenn wir eine Chance haben wollen, human zu überleben, muss meiner Meinung nach nicht die sozialistische, sondern die soziale Einheit der Menschen folgen.
Immerhin wächst das Bewusstsein für die Endlichkeit der Ressourcen. Kommt dies nicht wiederum der Ethik zugute?
Das Biophilie-Postulat, das ich für die Grundlage jeder Ethik halte, meint natürlich die nachhaltige Biophilie: Handle stets so, dass du durch dein Verhalten nachhaltig eigenes und fremdes personales Leben eher mehrst als minderst. Es muss also möglich sein, dass politisches und ökonomisches Entscheiden auch noch in hundert Jahren personales Leben eher mehrbar als minderbar macht. Ob und in welchem Umfang das von den jetzt vorhandenen Ressourcen abhängt, weiß ich nicht. Es werden ja immer neue entdeckt. Vor hundert Jahren wäre zum Beispiel niemand ernsthaft auf den Einfall gekommen, Sonnenenergie unmittelbar zur primären Energiequelle zu machen.
Interview: Petra Jauch Bildquelle: T. Lorenz, A-M-T Management Performance AG
Podiumsgespräch auf der Zukunft Personal
Special Guest Pater Prof. Dr. Rupert Lay SJ im Dialog mit Klaus Bodel, BMW Group Bildungsakademie, und Matthias Mölleney, Präsident der Züricher Gesellschaft für Personalmanagement zum Thema „Werte im Wandel – kein Wandel ohne Werte!? Personaler in der Verantwortung für die Kultur im Unternehmen“.
Moderation: Thomas Lorenz, Vorstand der A-M-T Management Performance AG Mittwoch, 18. September 2013, 12. bis 12.45 Uhr. Forum 5, Halle 3.1, koelnmesse