„Was gehört für Sie zu einem gelungenen Tag?“, ist eine der beliebtesten Fragen bei Online-Kontaktbörsen. Die häufigste Antwort lautet: „Ein gutes Gespräch.“ Die US-amerikanische Zeitschrift The Atlantic hat verschiedene Langzeitstudien ausgewertet und kam dabei zu zwei Ergebnissen:
- Vor 100 Jahren sprachen Amerikaner etwa vier Stunden am Tag miteinander
- Heute sind es noch knapp anderthalb Stunden.
90 Minuten Gesprächszeit − das ist erschreckend wenig, insbesondere wenn man bedenkt, dass viele Gespräche eher Klatsch und Tratsch, Smalltalk oder einfach Informationsaustausch sind. Mit Sicherheit sähe eine ähnliche Studie in unseren Breiten nicht viel anders aus.
Viele Worte, wenig Inhalt
Wir tauschen uns pausenlos mit anderen aus, zu Hause, im Job, am Handy, per Mail. Trotz dieses Übermasses an Kommunikation werden wir nur in den seltensten Fällen sagen, dass wir ein gutes Gespräch, eine echte Begegnung hatten. Was macht die Qualität eines guten Gesprächs aus? Selbst wenn die Inhalte schwierig oder komplex waren, fühlen wir uns anschliessend angeregt, energiegeladen und tief berührt. Schlechte Gespräche hingegen laugen uns aus. Sie machen uns müde, lassen uns gelangweilt oder gereizt zurück.
Was läuft bei vielen Gesprächen schief?
Kennen Sie diese Gespräche, die voller leerer Worthülsen und Floskeln sind? Oder Unterhaltungen, in denen ebenso subtil wie destruktiv darum gewetteifert wird, wer den besseren Urlaub, den stressigeren Job, den erfolgreicheren Partner oder das härtere Schicksal hat? Es gibt verschiedene Gründe für unbefriedigende Gespräche:
- Die Gesprächspartner sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
- Man stellt sich selbst nicht infrage, sondern betrachtet und beurteilt alles durch die subjektive Brille.
- Angeberei, egal ob man mit Wissen beeindrucken oder den Opferpokal gewinnen will.
- Man redet aneinander vorbei und hört nicht zu, sondern bildet schon erste gedankliche Sätze, während der andere noch spricht.
- Man nimmt den anderen nicht ernst und zeigt das womöglich auch durch Körpersprache.
- Es werden Fragen gestellt und Behauptungen gemacht, die den anderen verunsichern.
- Die Inhalte bleiben oberflächlich, sind unpersönlich, vielleicht sogar abstrakt. Die Gesprächspartner schotten sich ab. Leere Worthülsen sollen vor Angriffen oder Verletzungen schützen.
- Man versteht nicht, wovon der andere redet oder was er meint. Erschwerend kann hinzukommen, wenn man sich keine Mühe gibt, dies zu ändern.
- Es wird eine Position eingenommen, die uneinnehmbar ist wie eine Bastion. Dialog und Disput werden verwechselt.
- Minutenlange Monologe, womöglich über belanglose Begebenheiten, die aber bis ins kleinste Detail ausgeführt werden.
- Schneller Rede- und Gedankenfluss, der dem anderen keine Pause gönnt.
- Ständige Unterbrechungen, man fällt dem Gesprächspartner ins Wort – schlimmstenfalls wird dabei auch noch in unterschiedlichen Themen umhergesprungen.
Der Religionsphilosoph Martin Buber bedauerte schon vor mehr als 50 Jahre, also lange vor dem digitalen Zeitalter, dass echte Begegnung selten stattfindet und wir uns eher „vergegnen“. Für Buber waren Gespräche vor allem echte Begegnung von Menschen, „die sich in Wahrheit einander zugewandt haben, sich rückhaltlos äussern und vom Scheinenwollen frei sind“. Heute kommunizieren wir auf so vielen Kanälen wie nie zuvor, aber wir sprechen kaum miteinander.
Was macht ein gutes Gespräch aus?
Ohne Gespräche kann der Mensch nicht leben, sie sind essenziell für uns. Stellen Sie sich vor, Sie bekämen pro Tag eine Stunde geschenkt mit dem Auftrag, diese mit einem Gespräch zu füllen. Mit wem würden Sie gerne sprechen? Und worüber? Der englische Philosoph und Historiker Theodore Zeldin hat darauf eine ganz einfache Antwort gefunden: über interessante Themen, die dazu einladen, möglichst viel vom anderen zu erfahren und dabei gleichzeitig auch viel von sich selbst preiszugeben. Wenn Sie aus dem Gespräch anders herauskommen, als Sie hineingegangen sind, können Sie sicher sein, dass es ein gutes Gespräch war. Das ist es, was eine Begegnung ausmacht: Jeder gewinnt und ist bereichert.
Gute Gespräche bereichern beide Gesprächspartner
Ein gutes Gespräch braucht nicht zwingend eine Vorbereitung. Echte Begegnung kann plötzlich und spontan entstehen, wenn die Gesprächspartner bereit sind, sich Zeit zu nehmen, und weniger auf Ergebnisse und Lösungen fixiert sind. Statt prompte Lösungen liefern zu wollen oder reflexgesteuert unsere Statements zu platzieren, kann ein Sich-Öffnen für die Sichtweise des anderen Raum schaffen für Inspiration und Tiefe. Ist man wirklich an der anderen Person interessiert, ist das Wegfallen oder Wegdenken von Vorurteilen der erste wichtige Grundstein für eine gute Gesprächsbasis. Innerer Abstand zu den eigenen Positionen ermöglicht eine andere Dynamik im Gespräch. Statt Disput oder Monolog entsteht ein Dialog mit Erkenntnisgewinn, der auch Widersprüche und unterschiedliche Sichtweisen aushält.
Jedes gute Gespräch braucht mindestens eine Person, die es anregt, und eine, die sich darauf einlässt. Es bedarf einer Neugier am anderen und einer Lust, Gespräche zu flechten. Gewürzt wird jedes lebendige Gespräch mit Fragen. Es gibt Menschen, die sind geborene Erzähler, und es gibt Menschen, denen man viele Fragen stellen muss. Je besser wir zuhören und damit verstehen, was der andere braucht, desto besser werden die Fragen. Unterdrücken Sie aber bitte den möglichen Impuls, dem Gesprächspartner mit ganz besonders gescheiten Fragen imponieren zu wollen.
Wenn Sie alle Wertung über den Gesprächspartner fallenlassen und sich trauen, bis ins kleinste Detail Fragen zu stellen, erhalten Sie die Chance, jemanden wirklich zu sehen. Diese Gespräche erfordern Kraft und Mühe, da sie Aufmerksamkeit, Wissen und Übung verlangen. Gleichzeitig bauen sie auf, inspirieren und geben vielfach Kraft zurück.
Literatur:
Buber, Martin (2006): Das dialogische Prinzip. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh
Hartkemeyer, Johannes F./Hartkemeyer, Martina (2006): Miteinander denken: Das Geheimnis des Dialogs. Klett-Cotta, Stuttgart
Schulz von Thun, Friedemann (2010): Miteinander reden, Störungen und Klärungen. Rowohlt, Reinbek
Storch, Maja/Tschacher, Wolfgang (2014): Embodied Communication. Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf. Verlag Hand Huber, Bern