Talentmanagement mit wissenschaftlich entwickelten Instrumenten ist weder aufwändig noch kompliziert.
Eine Aufgabe zu haben, die genau zu dem passt, was man kann und möchte, davon träumen die meisten. „Leider befassen sich noch zu wenige KMU mit strategischem Talentmanagement, also mit der Frage nach der erfolgskritischen Passung von Mensch und Aufgabe bezogen auf die aktuellen und künftigen Herausforderungen“, sagt Rafael Verstege, Professor für Personalmanagement an der TH Nürnberg. Auch Unternehmen müssten sich Mitarbeiter wünschen, die genau zum Unternehmen und zu ihren Aufgaben passen und sich deswegen im Unternehmen wohlfühlen.
Viele Mittelständler gehen jedoch davon aus, dass ein systematisches Talentmanagement unnötig und zu aufwendig ist, so der „Talent KlimaIndex 2016“ der Hochschule Fresenius. Dabei ist genau diese Passung von Unternehmen, Aufgaben und Mitarbeitern nicht nur für mittelständische Unternehmen ein wichtiger Erfolgsfaktor.
Wir zeigen am Beispiel eines Süddeutschen Versicherers auf, welchen Nutzen Talentmanagement in Zeiten von Wirtschaftswachstum, Digitalisierung und gleichzeitigem Fachkräftemangel für ein Unternehmen haben kann und wie mithilfe von wissenschaftlichen Analysetools Menschen/Talente und Aufgaben besser zueinanderfinden.
1. Talentmanagement korreliert mit Unternehmenserfolg
Eine Studie der Boston Consulting Group und der World Federation of People Management Associations (WFMPA) hat im Jahr 2015 erstaunliche Ergebnisse über den Zusammenhang zwischen Geschäftserfolg und Talentmanagement zutage gebracht. So verzeichnen Unternehmen mehr als zweifach höhere Umsatzsteigerungen und 1,5-fach schneller wachsende Gewinne, die eine qualitativ hochwertige Führungskräfteentwicklung betreiben und ein systematisches Talentmanagement mit modernen Methoden und Tools eingeführt haben. Dabei sind Vorbildfunktion und Engagement der Führungskräfte bei der Entwicklung der Talente entscheidend, wie die Studie herausfand.
2. Wer sind die Talente?
Im ersten Schritt müssen Unternehmen klären, wer die Talente sind, die das Unternehmen voranbringen. Talente sind Menschen mit erfolgskritischen Kompetenzen. Es handelt sich um Schlüsselmitarbeiter, die wesentlich zur Wertschöpfung des Unternehmens beitragen und deren Leistungen sich nicht ohne weiteres kompensieren lassen. Daher muss das Unternehmen wissen, wer diese Mitarbeitenden sind, es muss ihre Kompetenzen und Potenziale kennen, sie fördern und an das Unternehmen binden. Fest steht, dass jede Organisation selbst bei der Einführung eines Talentmanagementprozesses definieren muss, was genau sie unter dem Begriff „Talent“ subsumiert.
3. Anlässe für Talentmanagement
Aus Unternehmenssicht gibt es viele verschiedene Anlässe, ein Talentmanagementsystem einzuführen. Dazu zählen zum Beispiel anspruchsvolle Wachstumsziele, eine neue Vertriebsstrategie, Umstrukturierungen und Reorganisationen (auch einzelner Abteilungen), Fusionen und Merger oder ein absehbarer Generationenwechsel in der Führungs- oder Expertenriege.
4. Nutzen von Talentmanagement
Strategisches Talentmanagement hat unterschiedliche Nutzenaspekte, die alle zusammengenommen zu einem Gewinnwachstum führen. Der Nutzen für die Unternehmen im Überblick:
- Das Unternehmen verfügt über Mitarbeiter, die zu den Anforderungen passen.
- Versteckte Potenziale werden im Unternehmen entdeckt und gehoben.
- Die Unternehmensentscheider haben einen Überblick über Leistungs- und Potenzialträger und können daher die Besetzung der Schlüsselpositionen flexibel planen.
- Mitarbeiter werden als wichtigste Ressource gesehen, ihr Beitrag zum Unternehmenserfolg wird geschätzt und eingefordert.
- Berufswegplanung und Fortbildungen werden wesentliche Bindungsinstrumente.
- Eine spezielle Frauenförderung wird weitgehend überflüssig.
- Zielorientierte Personalentwicklung wird möglich und nötig.
- Führung wird professionalisiert und um Personalbeurteilung, Feedback und kompetenzgerechte Führung erweitert.
- Führungskultur wird zur Förderungskultur.
5. Talentmanagement in der Praxis: Vorgehen in sieben Schritten
Bevor wir näher auf das Praxisbeispiel eingehen, hier zuerst ein Überblick über die Vorgehensweise in der Praxis.
1. Zuerst wird die Talentmanagementstrategie aus der Unternehmens- oder Abteilungsstrategie abgeleitet und die Schlüsselpositionen benannt
2. Das abgeleitete Kompetenzmodell fungiert als Leuchtturm für die Rollen- und Aufgabenbeschreibung
3. Die Instrumente für die Talent-Identifikation werden bereitgestellt: Begriffsdefinition, Anforderungsprofile und Instrumente-Check
4. Die Kompetenzen und Motive werden analysiert: Potenzialprofile mit Lern- und Entwicklungszielen dienen als Kompass
5. Die statistischen Auswertungen der wissenschaftlichen Potenzialanalysen dienen als Landkarte für die Talentmanagement-Konferenz, das Nachfolgemanagement und für Talentpools
6. Und dann die Segel richtig setzen: Zielgerichtete Konzeption und Umsetzung der Personalentwicklung
7. Klar Schiff machen: Jährliche Gesamtevaluation - die Talentmanagement-Strategie ist Teil der Unternehmensstrategie, Standardprozesse werden etabliert und gegebenenfalls angepasst
6. Mit Talentmanagement zu mehr Kundenorientierung: Das Beispiel aus der Praxis
Bei einer strategischen Offensive für mehr Kundenorientierung führte die Versicherungskammer Bayern 2016 in ihrem Agenturvertrieb mit der Unternehmensberatung diePartner GmbH ein systematisches Talentmanagement ein. Über die neue Strategie und ihre Hintergründe sagte Vertriebsvorstand Klaus G. Leyh, Vorstandsmitglied der Versicherungskammer damals: „Produkte und Preise können heute nicht mehr das alleinige Unterscheidungsmerkmal darstellen. Vielmehr rückt der Service, den unsere Kunden entlang der gesamten Kundenreise (Customer Journey) erleben, in den Mittelpunkt. Die Kundenreise beginnt bereits beim Kundenberater, der als Bindeglied zwischen Kunde und Versicherer wirkt.“ Diese (neuen) Kundenberater mit ihren speziellen Fähigkeiten galt es in einem Talentmanagementprozess zu finden, zu entwickeln und zu binden. Dabei orientierte sich die Versicherungskammer Bayern an den sieben Schritten zum Talentmanagement, die oben beschrieben sind. In die Planung und Umsetzung flossen auch die weiter unten aufgeführten sieben Erfolgskriterien ein, die Unternehmen grundsätzlich im Blick behalten sollten.
Kompetenzmodell und Anforderungsprofile definieren
Die ersten vier Schritte setzte die Versicherungskammer in einem einjährigen Pilotprojekt mit vier engagierten Vertriebsführungskräften in ihren Agenturen um. Trotz der grundsätzlichen Bereitschaft, etwas zu verändern, mussten die externen Berater zunächst Akzeptanz für die Veränderung schaffen. Bisher hatten die Vertriebsführungskräfte neue Agenturmitarbeiter in Eigenregie ausgewählt – mit standardisierten Unterlagen der Versicherungsgesellschaft und einem allgemeinen Persönlichkeitstest. Strategisch hergeleitete Auswahlkriterien oder ein Kompetenzmodell gab es nicht.
Um die Beteiligten ins Boot zu holen, wurden in Workshops mit den Beratern die Vorteile von strategisch ausgerichteten und einheitlichen Beurteilungskriterien ausgearbeitet und neue Instrumente für die anforderungsbezogene Personalauswahl vorgestellt. Das wissenschaftliche Analyseinstrument CAPTain Unternehmensleitung erfasst heute bei den Agenturinhabern unter anderem strategisches Denken, langfristiges Handeln und Führungsverhalten. Die Vertriebskompetenzanalyse (VKA) misst bei Verkaufsberatern, wie sie mit Kunden umgehen.
diePartner GmbH vermittelten den Führungskräften Wissen über moderne Personaldiagnostik und bezogen dabei ihr Know-how mit ein, zum Beispiel beim Erarbeiten von Rollen- und Aufgabenbeschreibungen, dem Erstellen von Kompetenzmodellen und Anforderungsprofilen. Von den zwölf erfolgskritischen Kompetenzbereichen für die Verkaufsberater waren aus Sicht der Vertriebsleiter die Kundenzufriedenheit und der verkäuferische Ehrgeiz gepaart mit Konfliktfähigkeit besonders wichtig.
Doch: „Was nützt uns die wissenschaftlich-fundierte Personalauswahl, wenn wir nicht die richtigen Bewerber haben?“ Die Antwort auf diese gewichtige Frage der Vertriebsleiter liegt auf der Hand: Die differenzierten Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Vertriebskompetenzanalyse (VKA) und dem teilstrukturierten Interview machen es möglich, auch Bewerber zu nehmen, die noch nicht überall den Anforderungen entsprechen, vorausgesetzt, sie zeigen genügend Entwicklungsorientierung und Motivation. Das Potenzialprofil ist dann die Basis für ganz gezielte Einarbeitung und Personalentwicklung von Anfang an.
Den Auswahlprozess gestalten
Mit der Einführung eines neuen Gesamtprozesses nach der Pilotphase erhielten die Führungskräfte im Frühjahr 2016 eine Art „Ritterschlag zum Talentmanager“. Sie finden heute die neue, strukturierte Vorgehensweise von der Personalauswahl bis zur Einarbeitung hilfreich: Nach Sichtung der Bewerberunterlagen findet ein Gespräch statt, um erste Eindrücke zu gewinnen.
Ob ein künftiger Generalagent über die erfolgskritischen Verhaltenskompetenzen verfügt, überprüfen webbasierte und wissenschaftliche Instrumente (CAPTain Unternehmensleitung und die Vertriebskompetenzanalyse VKA), die anschließend zum Einsatz kommen. Zu den untersuchten 34 Dimensionen gehören beispielsweise unternehmerisches Denken und Handeln, Führungsautorität und Kundenorientierung. Wer die Anforderungen im Test erfüllt, kommt weiter. Die Testergebnisse machen das vertiefende teilstrukturierte Interview in der Folge sehr ergiebig. Für den künftigen Generalagenten sind die Ergebnisse ein Leitfaden für seine persönliche Entwicklung. Da alles in einem Ergebnisbogen dokumentiert wird, verfügt am Ende des Auswahlprozesses auch die Führungskraft über ein differenziertes Potenzialprofil, das zusammen mit dem Einarbeitungsplan das Handwerkszeug für ein begleitendes Coaching des neuen Agenturinhabers ist.
Die Gruppeninhalte aus den Testergebnissen zeigen die Anforderungen an die Führungskräfteentwicklung. So sieht der Trainer genau, welchen Weiterbildungsbedarf die Führungskräfte haben.
Das wären zum Beispiel:
- stärkere Identifikation mit der Führungsrolle
- höhere Entscheidungsfreude
- mehr Delegation
- mehr Selbstständigkeit
- weniger Unterstützungsbedarf
- mehr Offenheit im Kontakt
Das Fazit von Projektleiterin Katharina Roßmann über die Einführung von Talentmanagement im Agenturvertrieb zum Jahresende 2016 fiel positiv aus: „Ich bin zufrieden darüber, welchen Kulturwandel wir offenbar angestoßen haben: objektive und genaue Erfolgskriterien für unsere Strategie der hohen Kundenorientierung zu haben und unsere Führungskräfte noch mehr als vorher in der Verantwortung für die Entwicklung und Bindung der so ausgewählten Verkäufer zu sehen.“ Gleichzeitig wies sie jedoch darauf hin, dass der Talentmanagementprozess kein Selbstläufer ist: „Wir müssen alle dranbleiben, die Umsetzung verfolgen und immer wieder optimieren.“
7. Mit Talentmanagement die Produktivität der Abteilung stärken:
Das zweite PraxisbeispielJede Führungskraft kann natürlich für die eigene Abteilung eine eigene kleine Version umsetzen. So geschehen bei einer Finance Abteilung mit Spezialisten bei einem Versicherungsunternehmen: Die neue Führungskraft wollte schnell wissen, wo die Mitarbeitenden des Teams ihre Stärken haben, um sie richtig einsetzen zu können. Nach vier Monaten Einarbeitung und Vertrauensaufbau lud sie ihre Mitarbeitenden zu der wissenschaftlichen Potenzialanalyse CAPTain agility und einem Auswertungsgespräch mit einer Beraterin ein. Zuvor hatte sie die einzelnen Stellenanforderungen entsprechend ihrer Abteilungsstrategie konkretisiert. Am Ende des transparenten Prozesses stand ein Teamworkshop, in dem die Aufgaben im Team kompetenzgerechter verteilt werden konnten.
8. Welche Rolle spielt die Human Resources-Abteilung
Talentmanagement leitet sich aus der Unternehmensstrategie ab und ist daher Sache der Geschäftsleitung bzw. der Abteilungsleitung, die es initiiert und/oder unterstützt. Es scheitert immer wieder daran, dass die Vernetzung von Geschäftsführung und Personalbereich in den seltensten Fällen funktioniert. Personalverantwortliche oder Personalentwicklung wissen zu wenig über die Ziele und Strategien des Unternehmens. In vielen Organisationen ist die Personalentwicklung zudem spärlich besetzt – manchmal mit nur einer Person, die mit der Geschäftsführung kaum auf Augenhöhe agiert. Wesentliche Aufgabe der Geschäftsführung und des Managements ist es jedoch, sich regelmäßig mit den für Talentmanagement verantwortlichen HR-Managern an einen Tisch zu setzen. Denn Auswahl, Förderung und Einbindung bestimmter Mitarbeitergruppen sind ja auf die strategischen Beiträge zum Unternehmenserfolg ausgerichtet. Talentmanager haben damit drei neue, verantwortungsvolle Rollen auszufüllen: Planer, Gestalter und Controller. Es muss sich also auch das Kompetenzprofil der HR-Verantwortlichen insgesamt verändern, damit die Einführung von Talentmanagement erfolgreich wird.
Die Human Resources-Abteilung ist somit in der Gesamtverantwortung und hat drei Rollen:
Strategischer Planer
Talentmanager verstehen sich als gesamtverantwortliche Planer für die Strategie, das Konzept und den Prozess des Talentmanagements. Die Geschäftsführung legt zunächst den strategischen Rahmen für das Unternehmen fest. Diesen bricht die Human Resources-Abteilung auf das Talentmanagement und andere Personalfunktionen herunter.
Kreativer Gestalter
Als kreativer Kopf gestaltet der Talentmanager ein Konzept, das aus eigenen Instrumenten wie Orientierungscenter oder Talentpool besteht und sich zugleich mit anderen womöglich vorhandenen Personalinstrumenten wie Mitarbeitergesprächen und Recruiting strategisch im Prozess verknüpft. Talentmanager stimmen sich mit Marketing und Presseabteilung ab und wirken so auf die Außendarstellung der Arbeitnehmerattraktivität.
Ergebnisverantwortlicher Controller
Da sich der Talentmanager in seiner Querschnittsfunktion auch der Instrumente und Handlungen anderer bedient, muss er zugleich die Rolle desjenigen übernehmen, der die Umsetzung seines Konzepts fortwährend beobachtet, evaluiert und eventuell korrigiert, damit die strategischen Ziele des Talentmanagements erreicht werden.
9. Ohne sie geht es nicht: Die sieben Erfolgskriterien für strategisches Talentmanagement
1. Talentmanagement leitet sich aus der Unternehmensstrategie oder der Strategie einzelner Bereiche ab und ist daher Sache der Geschäftsleitung bzw. der Abteilungsleitung, die es initiiert und/oder unterstützt.
2. Führungskräfte sind Talententwickler und werden danach beurteilt.
3. Ein aus der Unternehmensstrategie abgeleitetes Kompetenzmodell dient als Grundlage für die Potenzialkriterien zur Talentidentifikation.
4. Schlüsselpositionen mit klaren Rollen und Aufgabenbeschreibungen sind definiert.
5. Talentidentifikation als transparenter Prozess basiert auf objektiver Eignungsdiagnostik, die den Status quo und das Potenzial erfasst.
6. Talentmanagement ist integraler Bestandteil des Nachfolgemanagements.
7. Maßnahmen und Programme haben definierte Ziele und werden evaluiert.
10. Fazit
Bei aller Strategieorientierung sollte Talentmanagement immer den Menschen in den Mittelpunkt stellen, seine unentdeckten Potenziale zur Entfaltung bringen und seine Motive im Berufsleben so weit wie möglich berücksichtigen. So kann eine Organisation für den Einzelnen zu einem Ort für Wachstum, Sinnfindung und Selbstverwirklichung werden.
Zugleich sind Talente aus Sicht der Organisation menschliche Ressourcen, an die Verhaltens- und Kompetenzerwartungen gestellt werden, um Unternehmensziele zu erreichen. Diese unterschiedlichen Interessenlagen gilt es in der Organisation in einem respektvollen Miteinander zu berücksichtigen. Dies ist vornehmlich die Aufgabe der Führungskräfte.
Primärer Nutzen eines strategischen Talentmanagements mit wissenschaftlichen Analysetools ist die planbarere Besetzung von erfolgskritischen Positionen durch systematische Potenzialerfassung im Unternehmen und durch Bindungseffekte. Der sekundäre Nutzen indes ist für jeden Mittelständler fast noch erstrebenswerter: Professionalisierung der Personalarbeit und Wandel der Führungskultur hin zu einer Förderkultur.
Autorin: Sibylle Nagler für CNT GmbH
Bild: Rawpixel, 2016