Nach Berechnungen der New Yorker Technologiefirma Basex verliert die US-Wirtschaft jährlich 588 Milliarden Dollar bedingt durch den „curse of disruption“. Der intensive E-Mail-Verkehr führt in großen Unternehmen zu einem Informationschaos. Und gleichzeitig entsteht eine skurille Form der Einsamkeit: Selbst der Kollege schreibt seiner Kollegin am Nebentisch eine Email... Vorstellungen und Bilder, wie Menschen zusammenarbeiten, wie wir in Gesellschaft unser Leben gestalten – beruflich und privat - sind Auswirkungen der Moderne. Nach Cyndi Lesher, ehemalige CEO von Xcel Energy „müssen wir Kollektivität wieder neu lernen, da wir von einem sozialisierten Individualismus geprägt sind“.
Voilá, den Weg zurück ins Dorf bleibt den Romantikern. Wie finden und wie gestalten wir den Weg in Verantwortungsgemeinschaften (caring communities)? Wir Menschen sind jetzt Spezialisten in der Kommunikation mittels Gesten und „einfachen Worten“ – auch via SMS und Twittern. Nach der modernen Kognitionsforschung unterscheiden wir uns in der Gestenkommunikation nicht von den Schimpansen. Was uns menschlich macht, ist die Entwicklung gemeinsamer Symbole. Symbole werden gemeinsam ent-deckt. Sie vermitteln emotionale und kognitive Perspektiven für ein gemeinsames Miteinander. Das geschieht über interpersonale Beziehungen. Diese finden nur in einer Verantwortungsgemeinschaften statt: Nur dort machen Menschen Sinnerfahrung. Und genau diese Erfahrung von Sinn wirkt sich direkt und positiv auf unser Immunsystem aus. Ebenso wie nicht empfundener Sinn Stress erzeugt. Stressbedingte Phänomene korrelieren negativ. Soll heißen, dass diese psycho-neuro-immunologisch negativ wirksam sind.
Wendezeit – Vorstellungen vom Mit-einander entwickeln
Wenn wir in fünf Jahren zurückblicken werden, wird das Jahr 2008 als Beginn einer Wendezeit registriert werden. Technisch gesprochen hat die registrierte Bankenkrise aus systemischer Sicht zu einer qualitativen Zustandsveränderung geführt. Selten sind Vorstellungen von „Vertrauen“ und „Ethik“ so intensiv diskutiert worden wie jetzt. Anzeichen von neuen Denkansätzen findet man zum Beispiel in Diskussion über die Ausrichtung des MBA-Studiums. Und so kommentiert der Dean der Judge Business School an der Universität Cambridge: „Es geht nicht nur darum, wie man einen Markt erschließt, sondern wie man in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext passt.“ Gerade in interkulturellen Begegnungen, die ja heute in fast jedem Büro stattfinden, braucht es Sensibilität und Respekt dafür, dass die andere Person anders ist. Ganz zu schweigen davon, wenn unterschiedliche Unternehmen in einem Merger-Prozess zusammengeführt werden sollen. Warum scheitern zwei Drittel aller Merger? Nach der Aussage eines Top-Bankers liegt der Grund vor allem darin, dass die verschiedenartigen Kulturen der Unternehmen nicht zusammengeführt werden und die Organisationsmitglieder dabei wenig bis keine Berücksichtigung finden. Die Menschen entwickeln keine gemeinsamen Symbole, keinen Sinn für- und miteinander. Beispiel: Der Geschäftsführer der ZWP-Ingenieur AG besucht einmal pro Woche die neue Niederlassung in Stuttgart, die aus einem Insolvenzverfahren übernommen wurde. Er weiß, dass die Kultur im Stuttgarter Büro eine völlig andere Prägung hat als in der AG. Die Herausforderung ist klar: Wie lernen die Mitarbeiter, die bisher in strenger Hierarchie gearbeitet haben, jetzt die Netzwerk-Kultur der AG? Wie lernen sie Zusammenarbeit über Hierarchie-Ebenen hinweg? Wie kann in der neuen Niederlassung Respekt, Vertrauen und Selbstverantwortung der Mitarbeiter entstehen, was ja Pulsschlag in jedem produktiven und erfolgreichen Netzwerken ist. Deshalb wird die neue Niederlassung nicht „einkassiert“, sondern der GF und seine Mitarbeiter investieren konsequent in sinnvolle Integration.
Werte sind gespürte Sinnhaftigkeit
Jeder Mensch hat Antenne und Gespür dafür, ob der Gesprächspartner offen und ehrlich redet. Man spürt in Untertönen, ob das Gegenüber die Wirklichkeit schminkt. (Dann setzt nämlich ein kalkulatives Verhalten ein – das Gegenteil von Vertrauen.) Wenn Vertrauen entsteht, verträgt man auch unangenehme Wahrheiten. Wenn mein Gegenüber mir die Wahrheit sagt und mir zugewandt bleibt, können wir unternehmerisch einen gemeinsamen Weg finden. Wir gestalten unseren Erfolg, entwickeln sinnvolle Schritte auf unser Ziel zu, können Fehler als Lernschritte erfahren. Unsere gemeinsamen Werte binden und inspirieren unsere Vorstellungen. Wir begegnen uns in unseren Wertvorstellungen. Die leiten uns verbinden uns. Wir fühlen uns inspiriert, Lust auf Leistung entsteht im Miteinander. Ein Konzern musste 2009 zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Produktionsstätte schließen. Der CEO überlegte in der stillen Kammer, wie er diese grausame Realität in weiche und sanfte Kommunikationsfloskeln packen könnte. „Bitte sagen Sie, wie es ist – ungeschminkt und klar“, sagte sein Berater, „dass Sie in Solidarität mit den Menschen sind, wird man spüren.“ Die Leute in der Produktion hören die Worte und spüren die Haltung. Innere Haltung vermittelt die entscheidende Energie im Umgang miteinander. Und so ist man nun dabei, miteinander Sinn-Strukturen zu entwickeln. Wenn die Vorstellung von Sinn gemeinsam entwickelt wird, entsteht eine positive Einstellung – „wir unternehmen uns“. Wenn in Zukunft ein Großteil der jüngeren Generation mehrere Berufe im Laufe ihres Lebens ausüben müssen (so die Industriesoziologen), dann müssen sie (und wir alle) lernen unternehmerisch zu leben. Das kann man nicht alleine, sondern nur in Gemeinschaft. Kohäsionskraft (Klebstoff) einer solchen Verantwortungsgemeinschaft sind gemeinsame Werte, die gespürt, vereinbart und gelebt werden. Anders als in den Fluren einer Hamburger Firma, wo „Werte“ formuliert, von einer Werbefirma schön gemacht wurden und nun als Wandschmuck dienen. Werte an sich vermitteln intrapersonal Vorstellungen von Sinnhaftigkeit. Und interpersonal wirken sie als Bindekraft. Wenn sie jedoch nicht gelebt werden und nur als Worthülsen empfunden werden, entwickelt sich emotio-logisch ein sogenannter „Sarkasmus auf den Gängen“. Dies hat zur Folge, dass die Leistungsbereitschaft messbar sinkt.
... aber was tun, wenn Kündigung droht?
In Nürnberg wollte man in einem Unternehmen das gesamte Personal von 1.400 Mitarbeitern auf 1.200 „reduzieren“. Was passiert, wenn 200 Kollegen entlassen werden? Unsichtbar verbreitet sich ein Angstvirus – „bin ich der nächste?“… Die Leistungsbereitschaft geht deutlich zurück und gleichzeitig nimmt Stress zu. Gibt es einen Weg der Gesundheit in einem solchen Drohszenario? Für den Vorstand und die Controller zählen allein die KPI’s (Key Performance Indicators) wie Cash Flow, EBIT, etc. Sie liefern Messindikatoren für Geldfluss und Gewinn. Jeder Controller muss die linearen Messungen beherrschen. Aber wie steht es mit den Menschen, die vor allem durch nicht-lineare Faktoren beeinflusst sind? Die Physik der Zahlen ist die Basis unseres Wirtschaftssystems. Aber die „quantenphysikalische“ Dimension menschlicher Reaktionen? Wo taucht diese im Kalkül auf? Wie werden die Reaktionen gemessen? Unternehmen stehen heute vor der großen Herausforderung, die psychologische Struktur und Gesetzmäßigkeit nicht nur an die HR-Abteilung zu delegieren, sondern sie strategisch in Planung und Gestaltung des Unternehmens als „harten Faktor“ einzubeziehen. Konkret heißt das: Wer in schwierigen Situationen die Betroffenen nicht mitnimmt und ihnen nicht hilft, unternehmerisch für sich zu denken und zu planen, verursacht einen menschlichen, gesellschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Schaden. (Für den letzteren hat der herkömmlich ausgebildete Controller leider noch kein Zahlensystem.) Die Schweizer Niederlassung eines Konzerns wurde damit konfrontiert, ihre gesamte Logistik nach Hamburg zu verlegen. In der Geschäftsführung überlegte man nun, wie sie die radikal lineare Strategie (Schließung der Logistik) so gestalten kann, dass die betroffenen Mitarbeiter nicht Monate vorher innerlich kündigen. Denn man war auf die Leistung der Mitarbeiter angewiesen. Nüchtern sachliche Bekanntgabe nach den Regeln des Gesetzes hätte psycho-logisch zur Folge gehabt, dass die Menschen ihre Arbeitskraft auf 40 Prozent runterfahren – abgesehen von den entstehenden Stresssymptomen. Logistik ist die wichtige Hardware-Schaltstelle zwischen Vertrieb und Kunde. Man entwickelte also ein konkretes Konzept, wie Vertrauen aufrecht erhalten werden kann – und zwar ehrlich. Die Führungsverantwortlichen initiierten also einen Prozess: Die Mitarbeiter wurden durch eine Person ihres Vertrauens in den Prozess frühzeitig mit einbezogen. Sie machten Mut das eigene Leben zu unternehmen und entwickelten gemeinsam realistische Optionen. Man blieb im Gespräch miteinander. Die Verbundenheit mit dem Unternehmen blieb erhalten, obwohl man wusste, was passieren wird. Ergebnis: Die Leistung blieb bei 100 Prozent.
Die vier Grundbedürfnisse...
... um Sinnhaftigkeit zu erfahren Wenn ein Mensch unternehmerisch denken und handeln will, müssen vier elementare Bedürfnisse angesprochen und positiv ausgerichtet werden: Erstens, jeder Mensch braucht ein positives Selbstwertgefühl. Wenn Herr M. den Befehl „von oben“ bekommt, stellt sich sein Gehirn wie von selbst auf Vermeidungsverhalten ein. Er entwickelt keine Kreativität mehr. Stress entsteht. Nur wenn die erfahrene Führungsperson sich an der Persönlichkeit des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin orientiert (was natürlich komplexer und aufwändiger ist) und die individuelle Persönlichkeit respektiert, entsteht Verhaltensänderung unter Wahrung der Selbstachtung. Zweitens, Menschen erleben ihr Leben dann als sinnvoll, wenn es von Wertvorstellungen geprägt ist. Wie bereits erwähnt sind Werte der gefühlte Klebstoff in jeder sozialen Gemeinschaft: sowohl im Betrieb als auch in Nachbarschaft. Wer sich nicht mehr mit anderen verbinden kann, erlebt unweigerlich Stress und Depression. Drittens, Menschen müssen sich selbst Ziele setzen können. Management by Objectives (MbO) hat sehr gut in den 90er Jahren funktioniert. Heute ändern sich die Umfelder eines Unternehmens jedoch so schnell, dass langfristige Zielvereinbarungen auf das Jahr gesehen schon nach einigen Monaten hinfällig sein können. Das heißt in Konsequenz, Führungsverantwortliche müssen im Kontakt mit ihren Mitarbeitern sein und darauf achten, dass Zielvorgaben stets in Verbindung mit dem Bedürfnis des Mitarbeiters sind. Dies weist auf das vierte elementare Bedürfnis hin. Viertens, ein Mensch braucht das Gefühl, die eigenen Lebensverhältnisse selbsteffizient bzw. eigens kontrolliert ausüben zu können. Jeder Mensch braucht Freiraum für Gestaltung. Das ist nicht nur ein Bedürfnis für Manager, sondern auch für die Mitarbeiter in der Produktion. Leichter gesagt als getan. Jedoch muss ein Unternehmen das vermitteln, was wir fachlich „organisationale Fähigkeit“ nennen, d.h., dass Mitarbeiter bottom-up entscheidungsfähig sind. Diese vier Aspekte hat Ed Hines, ehemals Vizepräsident bei AT&T, verstanden und bewusst für einen anstehenden, massiven Veränderungsprozess bei Lucent Technologies eingesetzt: Als AT&T ihre Manufaktur und Bell Labs ausgegliedert hatten und Lucent Technologies gründeten, wurde zum ersten Mal die Wave of Change® eingesetzt, das Sechs-Phasen-Modell für Transformationsprozesse. Im ersten Schritt wurde planvoll daran gearbeitet, ein Bewusstsein für die neue Richtung bei allen zu erzeugen (Phase 1) und die Mitarbeiter dort abzuholen, wo sie sich im Sinne ihrer Wertvorstellungen wiederfinden konnten (Phase 2). Lucent wurde erfolgreich und „Liebling“ der Investment Community – die Aktie stieg vom spin-off Preis von $ 7.56 auf $ 84,-. Die Mitarbeiter von Lucent waren fokussiert, hatten eine genaue Vorstellung von ihrem eigenen Beitrag im Unternehmen und hatten einen klaren internalisierten Richtungssinn. Solidarität und hohe Leistungsbereitschaft entstand damals nicht durch Wissensmanagement, sondern durch Emotionalität. Wohlgemerkt: keine „Hurra-Mentalität“, sondern die Menschen wurden strategisch in den Prozess miteinbezogen. Es gab einen sense of urgency („wir müssen jetzt als eigenes Unternehmen überleben!“). Man spürte Emotion, da persönliche Werte und Anliegen ernst genommen und mit einbezogen wurden. Probleme wurden benannt, Prozesse definiert und Kostenbewusstsein war in allen Bereichen vorhanden. Das Zugehörigkeitsgefühl wurde gestärkt – jeder sah seinen Anteil am und seine Rolle im Erfolg. Die Produktivität des Unternehmens stieg damals um 48 %, Fertigungsintervalle sanken um 88 %. Was nicht passierte: Lucent setzte keine zweite Welle in Bewegung, um Nachhaltigkeit zu erzeugen. Sie erlagen dem Syndrom des quick win.
Sinn finden – von der Zweckgemeinschaft zur Verantwortungsgemeinschaft; Erfolge mit Leidenschaft gestalten
Vor einigen Jahren zitierte der Mercedes-Chef Jürgen Schrempp den alten Heraklit: „Nichts ist so beständig, wie der Wandel“. Seit Anfang des Jahrtausends ist Wandel das magische Wort des Managements. Aber was ist Wandel? Es gibt Veränderung und Wandel. Veränderung ist das stete Fließen der Ereignisse (was Heraklit und Schremp meinten) – ein sogenannter phänotypischer Prozess. D.h., die Möbel werden bewegt von Punkt A nach Punkt B. Das lässt sich organisieren. Wandel oder Transformation dagegen ist ein krisenhafter Prozess, ein sogenannter genotypischer Prozess, der Paradigmenwechsel beinhaltet. Die Zeichen der Zeit weisen darauf hin, dass wir in Zukunft mehr genotypische Prozesse einsteuern werden als alltägliche Veränderungsprozesse organisieren. Alle Anzeichen weisen darauf hin, dass wir im Wandel sind. Es gibt keinen Wandel ohne Krise. Ein verbreitetes Gefühl in unserer Bevölkerung zeigt an: Wir befinden uns im Nebel; keiner weiß genau, wie sich die Dinge entwickeln werden. Auch dies ist eine typische Charakteristik für den Wandel. Kritisch, aber in sich logisch, dass die konventionellen Sinnstrukturen nicht mehr passen. Wenn das gespürt wird, entsteht Stress und Depression. Und so sagte die Weltgesundheitsbehörde im Februar 2009 voraus, dass Depression in den nächsten Jahren die Nr.1 auf der Liste sein wird. Immer mehr Menschen empfinden, dass sie den Überblick und den Sinn in ihren Lebenszusammenhängen verlieren. Deshalb werden in den nächsten zwei Jahren neue Verfahren und Messeinheiten im Sinne der Corporate Social Responsibility auf den Weg gebracht werden, die die Wirkung menschlicher Verantwortungsgemeinschaften messen und verpflichtend machen. Denn nur so können Gesundheit von Menschen und Potenziale von Innovation und Kreativität erhalten bleiben.
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