Im Jahr 2010 beschlossen die Stadtwerke Gießen ihre neue Unternehmensstrategie 2015. Dabei kam die Frage auf: Wurden die bisherigen Unternehmens- und Führungsleitlinien im Unternehmen überhaupt gelebt? Hans-Jürgen Schulz, Leiter Personal und Organisation der Stadtwerke Gießen AG, erzählt im Interview, wie das Unternehmen seine Führungskräfte auf insgesamt drei verschiedenen Ebenen fit gemacht hat für die neue Unternehmensstrategie. Das Unternehmen Profiles GmbH begleitete und unterstützte die Stadtwerke Gießen bei diesem Prozess.
Florian Boenigk: Herr Schulz, Sie nutzen bereits seit vielen Jahren die Instrumente von Profiles. Können Sie uns bitte kurz erzählen, wie sich diese Zusammenarbeit entwickelt hat?
Hans-Jürgen Schulz: Wir arbeiten bei den Stadtwerken Gießen (SWG) schon seit fast zehn Jahren mit den Instrumenten von Profiles. Zunächst wurde ProfileXT bei der Einstellung neuer Mitarbeiter, nicht aber für die Entwicklung der Mitarbeiter eingesetzt. Im Jahre 2011 wollten wir nun aber zusätzlich Instrumente haben, die es uns ermöglichen, unsere Führungskräfte der Ebenen II und III zu beurteilen und auf dieser Grundlage Maßnahmen für deren gezielte Weiterentwicklung zu erarbeiten. Deshalb haben wir ProfileXT durch das 360°-Feedback-System und die Organisationsmanagement-Analyse (OMA) ergänzt.
Florian Boenigk: Warum erlangte die Beurteilung der Führungskräfte eine stärkere Bedeutung?
Hans-Jürgen Schulz: Im Zuge der Umfirmierung zur Aktiengesellschaft unseres Unternehmens im Jahr 2002 wurden die Unternehmensleitlinien, darunter auch die Führungsleitlinien, erarbeitet und publiziert. Im Zuge der Umsetzung der Unternehmensstrategie 2015 fragten wir uns 2010, ob diese Führungsleitlinien tatsächlich gelebt würden. Dies wollten wir ergründen und gleichzeitig ermitteln, welche Entwicklungsmaßnahmen erforderlich sind, um die tägliche Führungsarbeit unserer Führungskräfte zu verbessern und sie an unsere Ansprüche anzupassen. Beginnen wollten wir diesen von vorherein langfristig angelegten Prozess bei den wichtigsten Meinungsverstärkern, also den beiden Vorstandsmitgliedern und deren direkt untergeordneten 14 Führungskräften der Führungsebene II.
Florian Boenigk: Sie erwähnten bereits, dass es im Jahr 2011 Neuerungen gab. Welche waren das?
Hans-Jürgen Schulz: Im Frühjahr 2011 ließen wir die Führungskräfte der Ebene II („FK II“) im Rahmen des 360°-Feedback-Systems beurteilen, das heißt erstens durch die Vorgesetzten der nächsthöheren Hierarchieebene (Vorstand), zweitens durch die Kolleginnen und Kollegen derselben Hierarchieebene sowie drittens durch die direkt unterstellten Führungskräfte der Hierarchieebene III und die direkt unterstellten Mitarbeiter ohne Führungsverantwortung. Außerdem erfolgte eine Selbstbeurteilung jeder FK II als Basis eines Abgleichs zwischen Fremd- und Selbstbild. Mithilfe der OMA, die die Summe der Ergebnisse der individuellen 360°-Feedbacks für die gesamte Führungsebene II abbildete, sahen wir, wie diese Führungskräfte als Gruppe, also als Führungsteam, wahrgenommen werden.
Florian Boenigk: Und wie lässt sich nun die Verbindung zu den Führungsleitlinien („FLL“) herstellen?
Hans-Jürgen Schulz: Im Frühjahr und im Herbst 2012 führten wir zunächst mit den Führungskräften der Ebene II zwei Führungsleitlinien-Workshops durch. Im ersten Workshop ging es im Kern darum, festzustellen, wo sich die größten Diskrepanzen zu unserem Führungsleitbild auftun und auf welche Führungskompetenzen wir uns gemeinsam als Führungsteam in Zukunft noch stärker ausrichten wollen. Die Erkenntnis war ernüchternd: Die im Jahre 2002 formulierten Führungsleitlinien haben Bestand, werden aber nicht gelebt. Zum gleichen Ergebnis waren wir übrigens auch durch die 360°-Feedbackanalysen und die OMA gekommen. Das war letztlich der Auslöser für unseren Entschluss, klassische Personalentwicklung mit klassischer Strategieentwicklung zu verbinden. Im Zuge der Entwicklung der aktualisierten Unternehmensstrategie 2020 sollte die Personalentwicklung und besonders die Führungskräfteentwicklung als eigenständige Strategie Eingang finden.
Florian Boenigk: Wie haben Sie den Prozess dann weiter vorangetrieben?
Hans-Jürgen Schulz: Mit der Situationsbeschreibung allein wollten wir uns nicht zufrieden geben, denn wir strebten ja wirkliche Veränderungen an. Also besprachen wir in einem zweiten Workshop, wie die Führungsleitlinien im täglichen Umgang mit den nachgeordneten Hierarchieebenen abgebildet werden können. Im Ergebnis reduzierten wir die Anzahl der zunächst im Fokus stehenden FLL auf drei, konkret waren das die Führungskompetenzen „Richtung vorgeben“, „erfolgreich motivieren“ und „Vertrauen bilden“. Anschließend wurden zu jeder der formulierten FLL jeweils drei Führungsleitsätze definiert. Diese konkretisierten die Leitlinien durch allgemein beobachtbares und damit beurteilbares Verhalten. Aber auch das genügte uns nicht, da jede Führungskraft von den Leitlinien und Leitsätzen unterschiedlich und in Abhängigkeit vom Tätigkeitsfeld berührt wird. Jede Führungskraft der Ebene II sollte für sich gemeinsam mit den eigenen Mitarbeitern beschreiben, woran die Umsetzung der Leitsätze in der jeweiligen Position wahrgenommen werden kann und auch, welche Konsequenzen eine unzureichende Umsetzung, also abweichende Verhaltensweise der Führungskraft, haben soll.
Florian Boenigk: Was genau meinen Sie mit Konsequenzen bei unzureichender Umsetzung?
Hans-Jürgen Schulz: Ob Veränderungen im Verhalten tatsächlich stattfinden, können am besten die jeweiligen Vorgesetzten, im Falle der Führungsebene II der Vorstand, und die unmittelbaren Mitarbeiter, also insbesondere auch die Führungskräfte der Ebene III, beurteilen. Um hier eine regelmäßige Kontrolle zu erreichen, werden die Führungskräfte das 360°-Feedback alle zwei Jahre durchlaufen. Aber wie gesagt, für uns ist wichtig, die Leitlinien und das dazugehörige Verhalten immer auch auf die Anforderungen der einzelnen Position auszurichten. Ein Vorgesetzter im technisch-gewerblichen Bereich muss die abgeleiteten Leitsätze ggf. anders verwirklichen als etwa ein Vorgesetzter im kreativen Marketing. Darüber hinaus wird die Verwirklichung sehr stark durch die individuelle Art jeder Führungskraft, durch ihre eigene Persönlichkeitsstruktur, beeinflusst. Um dies fein zu justieren, fanden im Jahr 2013 Führungswerkstätten zwischen den Führungskräften der Ebenen II und III, den sogenannten Gruppenleitern, statt. Immer ging es um die Frage, wie wir allgemeine Grundsätze auf die konkrete Situation herunterbrechen und sicherstellen können, dass die Umsetzung im jeweiligen Team auch gelingt und nachhaltig wirkt. Eine Konsequenz, um auf Ihre Frage zurückzukommen, kann sein, dass die Mitarbeiter ihren Vorgesetzten zeitnah und vehement darauf aufmerksam machen, wenn er bestimmte Verhaltensregeln, zu denen er sich bekannt hat, nicht einhält. In Bezug auf die Führungskompetenz „Richtung vorgeben“ lässt sich auch über konkrete Zielvereinbarungen viel erreichen. Deshalb haben wir zeitgleich das Führungsinstrument „Zielvereinbarung“ im Unternehmen ausgeweitet und die Führungskräfte stärker darauf verpflichtet und trainiert. Auch hier können der Vorgesetzte und die Mitarbeiter direkt auf die Verhaltensweise der Führungskraft reagieren.
Florian Boenigk: Heißt das, dass die ganze Diskussion und die Leitsätze sowie deren Umsetzung in der Führungsspitze des Unternehmens beschränkt bleiben?
Hans-Jürgen Schulz: Nein, ganz im Gegenteil! In diesem Jahr wollen wir damit beginnen, alle Mitarbeiter schrittweise in den gesamten Prozess einzubinden. Das soll so geschehen, dass die Führungskräfte der Ebene III in geeigneter Form mit ihren Mitarbeitern besprechen, wie die konkretisierten Leitsätze aus den Führungswerkstätten zu verstehen sind und was diese für die Wahrnehmung der Mitarbeiter in Bezug auf ihre Vorgesetzten bedeuten. Der Prozess, das ganze Unternehmen, also alle Mitarbeiter, auf unserem Weg mitzunehmen, hat gerade erst begonnen. Aber wir wissen, dass wir den richtigen Kurs eingeschlagen haben. Es geht darum, unser Verhalten als Führungskraft täglich im Sinne aller zu verbessern. Den Anspruch einer Personalentwicklungsstrategie sollen alle Mitarbeiter der SWG kennen, sodass sie sich auch entsprechend einbringen können. Diese Art der Personalentwicklung wurde inzwischen manifestiert in unserer aktualisierten Unternehmensstrategie 2020, welche uns, bildlich gesprochen, aus hoher Flughöhe weit in die Zukunft schauen lässt.
Florian Boenigk: Zum Schluss vielleicht noch ein paar Worte zur Zusammenarbeit mit Profiles. Wie schätzen Sie diese ein?
Hans-Jürgen Schulz: Eines muss ich ganz klar sagen: Ohne die Instrumente von Profiles, also ProfileXT, der 360°-Feedback-Analyse und der Organisationsmanagement-Analyse (OMA) hätten wir den Prozess, so wie wir ihn durchgeführt haben, nicht umsetzen können. So aber konnten wir alle uns wichtigen Erkenntnisse zusammentragen und dabei immer die gleichen Beurteilungskriterien zugrunde legen. In der Anwendung der Instrumente und der Umsetzung der einzelnen Schritte haben sowohl Andrea Schmelzenbach-Schrijner vom Profiles-Partnerunternehmen AS Profiling als auch ihr Partner Raoul Sonnenberg eine wichtige Rolle für uns gespielt. Dieses Interview ist erstmals in der 20. Ausgabe des "Profiler", dem Newsletter von Profiles International GmbH, im Januar 2014 erschienen. Bild: Hans-Jürgen Schulz, Leiter Personal & Organisation, Stadtwerke Gießen AG