Chancengleichheit ist in Deutschland Staatsräson. Schon das Grundgesetz verlangt, dass niemand aufgrund seines Geschlechts, seiner Religion, seiner Weltanschauung oder seiner Herkunft benachteiligt werden darf. Alle Unternehmen schreiben sich zudem "Diversity" auf ihre Fahnen. Doch die Wissenschaft hat nachgewiesen, dass es insbesondere im HR-Bereich mit der Chancengleichheit nicht sonderlich weit her ist.
Wer einen deutschen Namen hat, hat beispielsweise sehr viel bessere Aussichten als eine Person mit türkischem oder afrikanischem Namen, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Dies hat eine Studie des "Sachverständigenrats Deutscher Stiftungen für Integration und Migration" herausgearbeitet. Verantwortlich hierfür ist ein Effekt, den man als "Unconscious Bias" bezeichnet. Grob lässt sich der Begriff mit "unbewussten Vorurteilen" übersetzen. Der bewusste Umgang mit jenen eröffnet gerade im HR-Bereich lohnende Chancen.
Unbewusste Vorurteile: Ein Sicherungsmechanismus des Gehirns
Jeder Mensch hat unbewusste Vorurteile. Das Gehirn benötigt sie als Sicherungsmechanismus, um die Welt zu erklären und angemessen schnell darauf reagieren zu können. Unbewusste Vorurteile sind eigentlich nichts anderes als spezielle Verhaltensmuster für Ausnahmesituationen. Als Beispiel: Sie nehmen bestimmte Tiere sofort als bedrohlich war und vermeiden deshalb den Kontakt. Sie würden niemals versuchen, einen Tiger in freier Wildbahn zu streicheln.
Diese Vorurteile als Verhaltensmuster sind evolutionsbedingt. Sie wurden durch die Erfahrungen von mehreren Generationen im Gehirn tradiert. Wann immer wir automatisch auf etwas reagieren, kommt ein solches Vorurteil zum Einsatz.
Biases sind kein Phänomen bei einzelnen Menschen, sie manifestieren sich überall: in Teams, in Organisationen und in Gesellschaften. Unbewusste Vorurteile haben weniger mit psychologischen Zwängen zu tun, sie sind eher ein biologischer Prozess. Auch schon beschrieben bei Kahnemann in seinem Buch 2011, "Schnelles Denken, langsames Denken". Unser Gehirn arbeitet effizient und nutzt gewisse Muster, um Ressourcen zu schonen. Bei einem neuen Reiz vergleicht das Gehirn das Erlebte mit bereits gespeicherten Merkmalen und sortiert den Rest aus. Es bleibt also nur das bereits Bekannte in der Wahrnehmung hängen. So entstehen absurde Überzeugungen, Barrieren und Erwartungen in unseren Denkmustern, und eine enorm hohe Fehleranfälligkeit. Nur, wer sich dessen bewusst ist, kann mit den Nachteilen umgehen, die mit diesen Vorurteilen einhergehen.
Hierzu ein Beispiel: Um geschlechterspezifische Nachteile bei der Einstellung neuer Musiker zu vermeiden, sind Orchester in den USA dazu übergegangen, BewerberInnen hinter Vorhängen vorspielen zu lassen. Die Frauenquote stieg von fünf auf 40 Prozent - zugleich wurde die Musik besser. In Deutschland liegt die Frauenquote in Orchestern ohne diese besondere Maßnahme bei zehn Prozent. Die US-Verantwortlichen machten sich deutlich, dass ihre Vorurteile zu Gunsten von Männern dazu führten, möglicherweise schlechtere MusikerInnen einzustellen. Sie ergriffen deshalb Gegenmaßnahmen.
Unbewusste Vorurteile können obsolet werden
Wer die obigen Zeilen liest, wird sich allerdings fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, den Vorurteilen zu folgen. Schließlich handelt es sich doch um einen verinnerlichten Sicherungsmechanismus. Hierbei gilt es allerdings eine Sache zu berücksichtigen: Unbewusste Vorurteile können obsolet werden, verschwinden aber nicht sofort.
Hierfür ist erneut die Studie des Sachverständigenrats Deutscher Stiftungen ein gutes Beispiel. Personaler stellen nicht lieber Deutsche ein, weil sie grundlegend rassistisch wären. Vielmehr ist dies ein Ergebnis der unbewussten Angst vor dem Fremden, das gemeinhin als bedrohlich wahrgenommen wird. Deutsche Namen wirken vertrauter und werden deshalb bevorzugt. Dies gilt aber beispielsweise nicht gegenüber englischen bzw. amerikanischen Namen. Im 19. Jahrhundert war dies noch anders - damals gab es unbewusste Vorurteile gegenüber allen Ausländern. Gegenüber den Menschen aus vielen westlichen Ländern sind sie mittlerweile komplett entfallen - zumindest was den Bereich der Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz angeht. Andere Stereotypen ("negative Vorurteile") haben sich allerdings gehalten.
Mehr als 175 Unconscious Biases: warum diese auch nützlich sind
Das Online-Lexikon Wikipedia listet 175 bekannte kognitive Verzerrungen – und es werden laufend mehr. Es gibt Kontroversen über einige dieser Vorurteile, die Frage ist, ob sie als nutzlos oder irrational gelten oder ob sie zu nützlichen Einstellungen oder Verhaltensweisen führen. Wenn Menschen beispielsweise andere Personen kennenlernen, neigen sie tendenziell dazu, bestimmte Fragen zu stellen, die zunächst voreingenommen wirken. Der Sinn dahinter ist, ihre Annahmen über die Person zu bestätigen. Diese Art der Voreingenommenheit kann als ein Beispiel für soziale Fähigkeiten bezeichnet werden: es ist eine Möglichkeit, Beziehung mit der anderen Person herzustellen und eine persönliche Verbindung herzustellen. Einige der 175 kognitiven Verzerrungen entstehen durch Informationsverarbeitungsregeln, die das Gehirn verwendet, um Entscheidungen oder Urteile zu treffen. Vorurteile erscheinen in sehr unterschiedlichen Bewertungsmustern, zb. als kühl sachliche kognitive oder als emotionale und motivierende Voreingenommenheit, z. B. wenn Überzeugungen durch Wunschdenken verzerrt werden. Beide Effekte können gleichzeitig vorhanden sein.
Der US-Internet-Blogger Buster Benson hat die Biases analysiert, gefiltert und als Cognitive Bias Cheat Sheet publiziert.
Die Struktur entspricht den vier zentralen Herausforderungen, mit denen unser Gehirn konfrontiert ist, und bei deren Meisterung unterschiedliche kognitive Verzerrungen entstehen können. Diese vier Problemfelder sind
1. die Informationsflut, der wir täglich ausgesetzt sind,
2. Daten, die zu wenig aussagekräftig sind, und die wir sortieren müssen,
3. schnelle Handlungsfähigkeit, so dass wir Situationen in Sekundenbruchteilen neu einschätzen können und
4. Informationsvielfalt, in der wir uns durch Überzeugungen und Glauben orientieren können.
Dieses Chart zeigt eine grafische Übersicht der vier Problemfelder und listet die einzelnen Bereiche im Detail.
Benson geht davon aus, dass wir uns dieser vier Problemfelder bewusst werden können. Aus seiner Sicht sind Unconscious Biases je nach Zusammenhang sinnvoll und nützlich, ohne besondere Nebenwirkungen oder manchmal eben auch problematisch.
Der richtige Umgang mit unbewussten Vorurteilen eröffnet Chancen
Wer sich jetzt das eigene Unconscious Bias ins Gedächtnis ruft, profitiert von einer Reihe von Chancen beim Rekrutierungsprozess neuer Mitarbeiter. Wie oben angerissen verhindern Sie beispielsweise, dass Sie möglicherweise schlechtere Kräfte nur aufgrund Ihrer Vorurteile einstellen. Zudem bedeutet kulturelle Vielfalt eine Bereicherung für jedes Unternehmen - insbesondere für Firmen mit internationalen Kontakten. Mitarbeiter, die durch ihre tägliche Arbeit mit unterschiedlichen Kulturkreisen in Berührung kommen, können sehr viel besser mit ausländischen Partnern umgehen.
Der bewusste Umgang mit unbewussten Vorurteilen ist deshalb längst nicht nur Staatsräson, sondern liegt in Ihrem wirtschaftlichen Interesse.