Assessment-Center in der Auswahl für „normale“ Positionen sind in zahlreichen Unternehmen seit vielen Jahren die Regel. Aber bei den Funktionen ganz oben in der Unternehmenshierarchie werden aus unterschiedlichen Gründen oft nicht dieselben Maßstäbe angelegt. Im Folgenden wird auf die Besonderheiten von Assessments im Leitungsbereich von Unternehmen eingegangen. Beweggründe und grundsätzliche Methoden sind zwar ähnlich. Aber hier gilt es einige Spezifika zu beachten. Eine kompetente Durchführung dieser sogenannten Management Audits erfordert tiefgehende Expertise, versiertes Vorgehen und kommunikatives Geschick.
Der Begriff Assessment kommt aus dem angelsächsischen Sprachraum, bedeutet so viel wie Bewertung oder Beurteilung und hat sich in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum gut eingebürgert. In höheren Hierarchien ist auch der Begriff Management Audit verbreitet, was eine gedankliche Linie zu Zertifizierungen und Auditierungen anderer Unternehmensbereiche zieht, z.B. im Finanz- oder Qualitätsmanagement. So wird die Ressource Mensch bzw. Führungskraft ebenfalls einer Beurteilung unterzogen. Das ist sicher sinnvoll, aber es sollte vorab klar unterschieden werden, dass es sich bei der „Human Resource“ nicht nur um die wichtigste, sondern um eine einzigartige Ressource handelt. Der Mensch ist nicht nur als Einziger in der Lage, alle Ressourcen intelligent kombiniert einzusetzen, sondern er ist auch die einzige Ressource, die sich durch ihren Gebrauch nicht abnützt, sondern an Qualität und Kraft durch ihre Anwendung sogar noch zunimmt, so lange sie nicht überbeansprucht wird. Dies wirft ein besonderes Licht auf die Bewertung menschlichen Potenzials. Nicht zu Unrecht weisen die Forschungen auf dem Gebiet des Humankapitals in Richtung immer größere Wichtigkeit. Dennoch wird beim Faktor Mensch noch häufig auf sogenannte „Intangible Assets“, also nicht wirklich quantifizierbare Aktiva verwiesen. Ein Top-Management Assessment ist somit ein sehr wertvoller Beitrag, herkömmliche Unternehmensbilanzen im positiven Sinne anzureichern. Denn Finanzkennzahlen spiegeln noch keinerlei Unternehmenskultur wider und sagen damit noch nichts über den Nährboden aus, auf dem menschliche Kreativität und Leistungskraft entfaltet werden kann. Und schließlich riecht der Fisch bekanntlich vom Kopf her, weshalb eine intensive Befassung mit demselben schlüssig erscheint.
Einzelassessment oder Assessment-Center
Während Assessment-Center schon in der Auswahl für Lehrlinge oder Trainees zur Anwendung kommen und für zahlreiche Funktionen ein adäquates Mittel darstellen, sind sie für das Top-Management ungeeignet. Artifizielle Situationen, Gruppenübungen und permanente Beobachter sind für gestandene Manager lästige Trockenübungen, die nicht als akzeptables Beurteilungsmittel angesehen werden. Das erprobte Einzelassessment mit schriftlicher Online-Erhebung, eingehendem Gespräch und persönlichem Feedback ist hingegen eine grundsätzlich akzeptierte Vorgehensweise, solange die Vorab-Kommunikation entsprechend ausfällt. Einen Top-Manager schickt man besser nicht zum „Test“, sondern zeigt ihm die Investition in sich selbst und das Unternehmen auf, damit seine Leistungspotenziale noch besser zur Entfaltung kommen und mögliche Barrieren erkannt und abgebaut werden können. Für denjenigen, der das Assessment durchführt, ist der sogenannte doppelte Dreischritt dann eine geeignete Vorgehensweise.
Einen Top-Manager schickt man besser nicht zum „Test“, sondern zeigt ihm die Investition in sich selbst und das Unternehmen auf. - Dr. Uli Vogel von profilingvalues
Abb. 1 Schema des Vorgehens beim Top-Management Assessment
Wichtig ist, dass diese Maßnahme immer einen bestimmten Bezugsrahmen und eine Zielsetzung hat. Natürlich geht es um eine Beurteilung der menschlichen Potenziale, jedoch sollte das Ganze jeweils auf spezifische Anforderungen hin projiziert werden und einer konkreten Zielsetzung dienen, beispielsweise im Rahmen der Besetzung einer CEO-Stelle oder im Zuge der individuellen Personalentwicklung eines Geschäftsleitungsmitglieds oder um die Teamarbeit im Management zu verbessern. Stets aber profitiert der Teilnehmer in persönlicher Weise, denn er bekommt einen Spiegel vorgehalten, der frei von persönlichen Beziehungen ist. Denn sonst erhält man nur Rückmeldungen aus dem privaten oder beruflichen Bereich mit dem Problem, danach weiter miteinander auskommen zu müssen. Ein Top-Management Assessment ist somit eine große Chance, objektives Feedback zu bekommen, denn bekanntlich bekommt man immer weniger Rückmeldung, je höher man in der Hierarchie aufsteigt.
Der Berater sollte in der Briefing-Phase so viele Informationen wie möglich sammeln und Zusammenhänge verstehen, um auf diesem hohen Niveau überhaupt in ein Gespräch auf Augenhöhe gehen zu können. Hier wird klar, dass es jahrelanger Erfahrung bedarf, um in diesen Assessments bestehen zu können. Es genügt nicht, ein Anforderungsprofil, den Lebenslauf und die Website des Unternehmens zu überfliegen. Vielmehr ist zur Vorbereitung eine intensive Befassung mit dem Geschäft des Unternehmens und dem Werdegang der Person vonnöten. Jedoch empfiehlt es sich auch nicht, so viel Wissen anzureichern, dass man versucht ist, diese Informationen im Gespräch loszuwerden. Das wirkt aufgesetzt und stößt den Teilnehmer vor den Kopf, weil es letztlich Informationen aus zweiter Hand sind, und er oder sie darüber sicher eine dezidierte Meinung hat.
Der Einsatz psychometrischer Verfahren ist nachdrücklich zu empfehlen, denn auf diesem Niveau hat man es mit Top-Leuten zu tun, die im zwischenmenschlichen Umgang in der Regel sehr geschliffen sind. Die tatsächliche Persönlichkeit dahinter ist umso schwerer zu erkennen. Typisierungen wie DISG oder MBTI sind hier weniger zu empfehlen, da sie schablonenartig arbeiten. Eher sind individuelle Profiling-Verfahren angeraten, wie z.B. SHL, Hogan, der BIP oder profilingvalues. Textlastige B erichtsformate wie Insights sind im Vergleich zu skalenorientierten Darstellungen weniger zur Hypothesenbildung vorab geeignet. Hypothesen sind zwar erlaubt, jedoch dürfen sie nicht die große Offenheit behindern, die zur möglichst objektiven Einschätzung eines Top-Managers unbedingt nötig ist.
Die Vorbereitung des Beraters ist eine komplexe Angelegenheit, die ganzheitliche Analytik, tiefgehendes Geschäftsverständnis sowie ein feines Gespür für Menschen erfordert. - Dr. Uli Vogel von profilingvalues
Das Assessment-Interview als Kernstück
Wer hier mit einer vorbereiteten Struktur nach „Schema F“ beginnt, hat schon verloren und wird sich der Person kaum nähern können. - Dr. Uli Vogel von profilingvalues
Das Gespräch bzw. das sogenannte Interview gehört zu den schwierigsten Aufgaben in einem Top-Management Assessment. Wer hier mit einer vorbereiteten Struktur nach „Schema F“ beginnt, hat schon verloren und wird sich der Person kaum nähern können. Das Ganze würde als Pflichtübung verstanden und entsprechend absolviert. Es empfiehlt sich eine sehr kurze Vorrede zu Zweck und Ziel der Maßnahme – denn für Top-Manager ist Zeit eine äußerst kritische Dimension – und dann ein unmittelbarer Einstieg in relevante Themen. Das kann eine konkrete aktuelle Herausforderung für das Unternehmen sein, die dem Berater in der Vorbereitung klar geworden ist oder eine Thematik, die beim Teilnehmer in seiner aktuellen Rolle Interesse weckt. Allgemeine Themen sind hier tabu, genauso wie oberflächliche Informationsfragen, die bei einer profunden Vorbereitung gar nicht auftreten würden. Es gilt, die Erwartung des Top-Managers hinsichtlich dieses Gesprächs zu übertreffen. Am Einfachsten gelingt dies, wenn er das Interview von Anfang an als ein interessantes Business-Gespräch unter Fachleuten empfindet. Dann öffnet er sich, ist auf die Themen fixiert und agiert in seiner natürlichen, individuellen Weise.
Allerdings liegt hier für den Berater auch eine Gefahr. Denn häufig sprudelt der Teilnehmer in den ersten Minuten nur so aus sich heraus mit Fachbegriffen, Akronymen und komplexen Marktzusammenhängen, so dass der Berater droht den Anschluss zu verlieren. Denn so viel kann man nicht vorbereiten, dass man hier überall kompetent mitreden könnte. Deshalb darf man diese Minuten nicht ohne Einhaken und Nach- bzw. Verständnisfragen vergehen lassen, sonst wird man später im Gespräch doch als unwissend ertappt bzw. als aufgesetzt entlarvt. Dann ist gleichsam die Luft aus dem Ballon und der Teilnehmer fühlt sich im schlimmsten Fall verschaukelt. Hier ist äußerst schnelle Auffassungsgabe und Situationsintelligenz gefragt, so dass man den Teilnehmer zwar steuert, aber auf einem Terrain, das ihm gefällt. Darüber hinaus muss der Berater aber auch während dem Gespräch die Persönlichkeit des Teilnehmers gleichsam „scannen“, um neben der Gesprächsführung auch zu einem Urteil zu kommen. Dies alles simultan in guter Weise zu schaffen gleicht einer sportlichen Höchstleistung und ist entsprechend anstrengend, jedoch auch enorm lehrreich.
Es empfiehlt sich, in der ersten halben Stunde weniger die Beurteilung im Auge zu haben als die saubere Eröffnung und Fortführung des Business-Gesprächs. Später ist leichter Gelegenheit, in sich selbst hineinzuhören, das intuitive Element des Beurteilens zu integrieren und natürlich auch das Verhalten des Teilnehmers zu bewerten. Hierfür ist es sinnvoll, einfache Bewertungsstrukturen zu haben, in die man notiert. Es ist jedoch Vorsicht geboten beim unmittelbaren Festhalten von Eindrücken, denn der Top-Manager beobachtet genau und urteilt hier auch umgekehrt. Extensives Notieren schadet dem Gesprächsfluss und lenkt den Berater letztlich auch auf Nebengeleise. Über die Zeit hat der Beurteilende in der Regel geeignete Kürzel für seine urteilenden Aspekte entwickelt.
Obwohl wie erwähnt eine explizite Struktur des Interviews ungeeignet ist, braucht der Berater implizit ein grundsätzliches Schema. Das folgende Schaubild zeigt auf, wie die Blaupause des Urteilenden aufgebaut sein kann, um sicher zu gehen, dass keine wichtigen Aspekte vergessen werden. In der Regel dauert ein solches Assessment-Interview zwischen 90 Minuten und zwei Stunden. Figurativ führt man sozusagen eine Art Ortsbegehung durch. Alle relevanten Verantwortungs- und Aufgabenbereiche werden berührt, um dabei die Sicht des Kandidaten zu erfahren. So sieht man die Welt gleichsam mit den Augen des Teilnehmers.
Abb. 2 Business-Gespräch Themenfelder
Persönliches Feedback und Reporting
Hat sich der Berater ein Bild gemacht und ist an allen wichtigen Themenfeldern vorbeigekommen, so ist es an der Zeit in angemessener Form Rückmeldung zu geben. Dabei empfiehlt es sich nicht, eine Pause zu machen, um sich mit sich selbst oder einem Kollegen zu beraten. Denn dies stellt für den Top-Manager eine Art Prüfungssituation dar, in der er gleichsam einen Rang niedriger abwarten muss, bis die Beurteilenden ihn wieder zu sich bitten. Der souveräne Berater leitet direkt ins Feedback über und spannt den Bogen von der Ausgangssituation im Sinne von Zweck und Ziel über all die inhaltlichen Aspekte hin zur letztlich entscheidenden Frage: Wie passen der Teilnehmer und die Anforderungen zueinander? Diese zentrale Passungsfrage ist von Interesse, nicht ob jemand gut oder schlecht ist, sondern ob seine Fähigkeiten und Aufmerksamkeiten zu den Aufgaben passen oder eben nicht.
Das Vorhalten des Spiegels muss stets in wertschätzender, aber auch konstruktiv kritischer Weise erfolgen. - Dr. Uli Vogel von profilingvalues
Eine lange Litanei der Aufzählung der Stärken des Teilnehmers sollte man auf diesem Niveau vermeiden. Denn die Top-Leute kennen ihre Stärken, und je länger man dort verweilt, desto skeptischer werden sie mit Blick auf die Urteilskraft des Beraters. Sie wollen sich schließlich verbessern, etwas lernen und neue Ein- und Ausblicke gewinnen. Daher ist es angeraten, das Feedback mit Blick auf die Entwicklungsfelder des Teilnehmers gut zu strukturieren und nicht mehr als zwei bis fünf Entwicklungslinien aufzuzeigen. Auch sind diese Themenfelder nicht nur zu begründen, am besten anhand von Beispielen aus dem Gespräch, sondern auch mit Anregungen zur persönlichen Verbesserung zu versehen. . Sich hier auf die Beratungsebene zu begeben, in der man sowohl persönlicher Consultant des Teilnehmers ist, als auch den Berater des Auftraggebers verkörpert, ist essentiell und führt zu einer authentischen Haltung in dieser schwierigen Rolle. Gelingt diese Brückenfunktion überzeugend, so ist die Akzeptanz des Top-Management Assessments beim Teilnehmer gesichert und führt in aller Regel zu Einsichten, die persönliche Entwicklung befördern. Das verbale Feedback am Ende des Gesprächs kann auch persönliche Aspekte beinhalten, die nicht an den Auftraggeber weitergegeben werden. Denn häufig öffnen sich Teilnehmer sehr weit. Die Privatsphäre ist zu schützen, und mit dem Vertrauen muss verantwortungsvoll umgegangen werden. So ist der letzte Teil des Gesprächs noch schwieriger als der Anfang, weil die zwischenmenschliche Sensitivität einen sehr hohen Stellenwert bekommt. Hier überzeugend und auf den Punkt zu kommunizieren, hinterlässt einen nachhaltigen, positiven Eindruck beim Teilnehmer. Mit einem überzeugenden Feedback werden häufig die Erwartungen des Teilnehmers bei weitem übertroffen.
Der Bericht an den Auftraggeber erfolgt in der Regel schriftlich und mündlich. Grundsätzlich gibt es verschiedenste Strukturmöglichkeiten für einen guten Report, er sollte jedoch stets ein Executive Summary von wenigen Sätzen enthalten. Hier gilt es, die Essenz mit Blick auf die Zielsetzung prägnant zu formulieren. Die weiteren Ausführungen kann man beispielsweise passend in Stärken, Schwächen bzw. Entwicklungsfelder und konkrete Handlungsempfehlungen gliedern. Auch die nominale Bewertung von bestimmten Kriterien oder Kompetenzen in Diagrammen und Skalen ist hilfreich. Ein guter Bericht enthält alle relevanten Persönlichkeitseigenschaften in der Projektion auf die Anforderungen. Ein exzellenter Bericht enthält jedoch auch noch den Transfer auf das Geschäft des Kunden und lässt die aktuellen Businessthemen sowie die herrschenden Konstellationen einfließen. Dann schwingt man sich von einer reinen psychologischen Beurteilung auf zu einem integrierten Beratungsansatz, der den Kunden in seiner Situation tatsächlich voranbringt. Dies verlangt oftmals eine Menge Mühe und den tiefen Einstieg in die Themen des Kunden. Aber es lohnt sich. Der Auftraggeber spürt das tiefe Interesse und schätzt die profunde Auseinandersetzung mit dem Unternehmen und den Personen. Schließlich gibt es nur eine Todsünde in der Beratung: Mangelndes Interesse am Kunden.
Und ein weiterer Punkt kristallisiert sich aus der Erfahrung heraus: Am besten schreibt man den Bericht im Entwurf sofort nach Beendigung des Feedbacks und der Verabschiedung des Teilnehmers. Hier ist alles noch präsent und die entscheidenden Punkte fließen gleichsam aus der Feder. Wenn nur ein bisschen zeitlicher Abstand, eine kurze Befassung mit einer anderen Thematik dazwischenkommt, dann ist dieses unmittelbare „In-die Form-Gießen“ der Assessment-Inhalte nicht mehr gegeben. Mit einigen Tagen Abstand kann meiner Erfahrung nach kein wirklich guter Bericht mehr verfasst werden.
Fazit
Die kompetente Beurteilung der menschlichen Fähigkeiten an der Unternehmensspitze wird zunehmend wichtiger und muss professionell erfolgen. Im Top-Management hat sich das Einzel-Assessment bewährt, wenn folgende Aspekte berücksichtigt werden:
- Saubere Vorab-Kommunikation,
- kompetente Auseinandersetzung mit der Zielsetzung,
- umfangreiche Vorbereitung,
- ein geeignetes psychometrisches Verfahren,
- ein versiertes persönliches Gespräch mit ausreichend Zeit
- ein anschließendes vertrauliches Feedback sowie
- ein umfassendes Reporting, das in enger Verbindung mit dem Geschäft des Unternehmens und den handelnden Personen in der aktuellen Konstellation steht.
Der Berater benötigt viel Erfahrung und die Bereitschaft, in extrem kurzer Reaktionszeit mit hoher Auffassungsgabe die Komplexität aus schwieriger Geschäftssituation und menschlicher Einzigartigkeit zu durchdringen und möglichst objektiv zu bewerten. Ein Top-Management Assessment ist eine beurteilende Höchstleistung, die sehr viel Freude machen kann und enormen Nutzen stiftet. Ganz nebenbei gibt es kaum eine Tätigkeit, die lehrreicher ist. Von Top-Leuten kann man eine Menge erfahren und unheimlich viel lernen.
Dr. Uli Vogel ist Geschäftsführender Gesellschafter der profilingvalues GmbH und der profilingva lues SL. Er ist seit über 15 Jahren in der Eignungsdiagnostik tätig und hat über 5.000 Einzelassessments selbst durchgeführt.
Bild: imtmphoto, 2016