50,7 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland gehen einer Erwerbstätigkeit nach. Eins haben sie alle gemeinsam: Millionen Menschen mussten sich irgendwann einmal, meistens in jungen Jahren, für einen Beruf entscheiden. Dennoch ist die Berufsorientierung als solches vollkommen unterbelichtet, wie Jo Diercks in seinem Aufruf zur Blogparade schreibt.
Individuelle Vorlieben und Präferenzen bestimmen unseren Berufswunsch, Voraussetzung dafür ist es aber, sich und die eigenen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Stärken zu kennen. Die Beantwortung der Frage „wer bin ich?“ setzt wiederum eine große Portion Reflexionsfähigkeit, Ruhe und Selbstachtung voraus. Diese sollte idealerweise Grundlage an Schulen und in Elternhäusern sein.
Inwieweit die Schule die spezifischen Begabungen, Interessen und Fähigkeiten der Schüler fördert, ist eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist, da jede Schule genau so gut ist wie ihre Lehrer. Aber: allgemein ist ganz deutlich ein Zuwachs an Druck, Stress und fehlender Passung zwischen Lehrplan (Schule) und Anforderungen (Beruf) festzustellen. Große Gräben gibt es auch und insbesondere in der Art des Lernstofftransports (uralte Methoden) und den Gehirnen der jungen Leute (durch PC und Internet geschulte neuronale Verknüpfungen). Vieles aus den Lehrplänen der heutigen Kinder kenne ich noch aus meiner Schulzeit... gebraucht habe ich es nie, dafür habe ich zwei Jahrzehnte gebraucht, um mir das Wissen anzueignen, welches sinnvoll und nützlich für den täglichen Gebrauch ist. Dennoch ist „die wichtigste Institution der Gesellschaft neben der Familie die Schule.“ sagt zumindest Bill Gates.
Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir
Wichtig ist eine Sensibilisierung der Schüler, die so individuell wie möglich sein sollte. Das Vorbild des Lehrers und die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung sind für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen von größter Bedeutung. Auch die Gestaltung der Schule spielt eine Rolle. Klassenzimmer wirken meistens unpersönlich. Sogar an Arbeitsplätzen von Erwachsenen können meistens mehr persönliche Dinge entdeckt werden als in einer Klasse. Die schulischen Lernvorgaben sind zu sehr auf passives und kognitives Lernen ausgerichtet. Längstens 13 lange Jahre werden Kinder und Jugendliche dazu getrimmt, still zu sitzen, leise zu sein, zuzuhören und wie ein Trichter irgendwelches Wissen aufzunehmen. Und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, sollen eben diese Kinder aktiv gestalten und wissen was sie wollen, einen Beruf auswählen, Ihre Talente kennen und Ziele formulieren. DIHK-Präsident Driftmann plädiert für eine frühzeitige und gute Berufsorientierung. "Wer weiß, was er will und kann, der trifft auch leichter die Entscheidung für den richtigen Beruf." Richtig, aber in der Schule lernen die Kinder und Jugendlichen nur selten, was sie wollen und was sie können. Wenn es heißt "Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir" Zitat, dann sind damit intellektuelle, emotionale und soziale Fähigkeiten gemeint, ebenso Einstellungen, Interessen und Werte. Alle diese Bereiche gehören zur Persönlichkeitsbildung, nicht nur kognitive Fähigkeiten. Durch die Summe aller Fertigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften werden wir für Arbeitgeber interessant, nicht nur durch das Wissen, dass in der Schule vermittelt wird.
Wer bin ich, wer werde ich sein?
Persönlichkeit(sentwicklung) ist so gesehen die Voraussetzung für die Berufsorientierung. Die Beschäftigung mit sich selbst ist aber nicht selbstverständlich, Schulen ignorieren das persönliche Potenzial geflissentlich und auch im Elternhaus ist die Frage nach dem „Ich“ und dem „Du“ nur selten ein Alltagsgegenstand. Eine Vielzahl von Büchern und Artikeln dokumentieren Befragungsergebnisse über Familienverhältnisse, in denen Jugendliche asozial, gewalttätig oder drogenabhängig wurden. Forschungsergebnisse, die beschreiben, unter welchen Bedingungen sich Jugendliche zu glücklichen Menschen entwickelt haben, sind schwer zu finden. Nicht nur die Wissenschaftler erzählen von der Faszination des Bösen, das ist ein allgemeiner Trend, der umso schädlicher ist, umso vernetzter und digitaler die Welt ist. Studien belegen, dass die größte Anzahl der Ausbildungsabbrecher nicht die älteren Azubis und nicht die Abiturienten sind. Eine klare Rangliste ergibt sich auch nach dem Schulschluss der Azubis: Je niedriger der Schulabschluss, desto höher sei die Lösungsquote, sagt BiBB-Expertin Alexandra Uhly hier in welt.de Und weiter: "Während 38,6 Prozent der Lehrverträge mit Auszubildenden ohne Hauptschulabschluss aufgelöst werden, sind es bei den Azubis mit Abitur nur 13,6 Prozent. Die Kosten für die Ausbildungsabbrüche belaufen sich auf dreistellige Millionenbeträge im Jahr."
Die Qual der Wahl
„Einen Beruf zu finden“ ist eine zentrale und bedeutende Angelegenheit, aber diese Formulierung ist ja eigentlich schon keine zeitgemäße Herangehensweise mehr. Es ist eine Seltenheit geworden, dass jemand einen Beruf lernt und ihn dann sein Leben lang ausführt. In der Zukunft könnte dieser Trend zum normalen Zustand werden. Die Tatsache, dass es fast 350 verschiedene Berufsausbildungen sowie über 1000 verschiedene Studiengänge gibt, ist ein weiteres Indiz für zunehmende Komplexität und macht es nicht leichter. Nicht nur die einzelnen Tätigkeiten unseres Alltags sind vielfältiger und komplizierter geworden – das ganze Leben ist ein Dschungel an Möglichkeiten. Berufsorientierung kann also im ersten Schritt eigentlich nur bedeuten, zunächst die eigenen persönliche Neigungen, die Talente und die Fähigkeiten festzustellen um die vielen Optionen einzuschränken.
Die Frage „Wer bin ich“ kommt also deutlich vor der Frage „Was ist möglich“.
Frank-Jürgen Weise, Vorstandsvorsitzender Bundesagentur für Arbeit, ist für „ein Aufbrechen von Denkmustern für berufliche Laufbahnen. Wir sollten weniger auf formale Qualifikationen und Abschlüsse achten, sondern mehr darauf, was ein Mensch für Talente und Fähigkeiten mitbringt. Wer auf die Weise eine Arbeit findet, die ihm Freude macht, ist nicht nur motiviert – er vollbringt auch Leistungen, die kein Zeugnis jemals ausdrücken kann.“ Die Persönlichkeit entwickelt sich durch Werte, Vorbilder, Traditionen, Regeln und Ideale. Alle Alltagskleinigkeiten, die im Familienleben vorkommen, sind von Bedeutung. Menschen lernen ganz von selbst aus allem, was ihnen begegnet. Mit zunehmendem Alter werden die eigene Weiterentwicklung und Selbstverwirklichung immer mehr zur eigenen Aufgabe. Schule und Elternhaus sollten vermitteln, dass es Spaß macht und sinnvoll ist, die eigenen Stärken zu kennen und Talente auszubauen. Zumindest für die Berufsorientierung ist ein bisschen Selbsterkenntnis Grundvoraussetzung, damit man weiß, was passt.
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